50 Jahre nach Annahme des Stimm- und Wahlrechts für Frauen bleiben in der Schweiz zentrale Ungleichheiten bestehen. Diese führen dazu, dass Frauen überdurchschnittlich oft von Armut betroffen sind.
Frauen sind stärker von Armut betroffen als Männer.
Am 12./13 Februar sensibilisiert die Caritas St.Gallen-Appenzell in den Gottesdiensten des Bistums dafür, wie Armut überdurchschnittlich Frauen betrifft.
Die Armutsquote von Frauen liegt bei 9.1 Prozent; diejenige von Männern bei 8.4 Prozent. Beschränkt man sich auf Schweizer Staatsangehörige, lag die Armutsquote von Frauen 2019 bei 8,1 Prozent, jene der Männer bei 6,7 Prozent. Einige mögen den Unterschied kleinreden. Seine Relevanz liegt jedoch in der Tatsache, dass Frauen seit Beginn der Armutsmessung stets häufiger von Armut betroffen waren als Männer. Dies gilt auch für die Armutsgefährdung, also das Risiko, in Armut abzurutschen. Die stärkere Armutsbetroffenheit und -gefährdung von Frauen ist also alles andere als zufällig – sie ist systematisch. Welches sind die Gründe dafür?
Arbeitsmarkt schlechter gestellt
Frauen sind überdurchschnittlich oft von prekären Lebenslagen betroffen. Sie bekommen fast doppelt so häufig wie Männer nur befristete Arbeitsverträge oder gehen mehreren Jobs gleichzeitig nach. Auch die Quote der Unterbeschäftigung ist bei Frauen viel höher. Das heisst, sie würden gerne mehr arbeiten, finden aber keine Stelle mit höherem Pensum. Bei den Aussteuerungen zeigt sich ein ähnliches Bild. Verlieren Frauen ihre Arbeit, tragen sie ein grösseres Risiko, ausgesteuert zu werden und ganz aus dem Arbeitsmarkt auszuscheiden.
Frauen verdienen weniger
Hinzu kommen grosse Lohnunterschiede: Gemäss Bundesamt für Statistik lag 2018 der Medianlohn von Frauen bei 6067 Franken, derjenige von Männern bei 6857 Franken. Fast die Hälfte dieses Unterschieds ist nicht erklärbar durch strukturelle Faktoren wie das Bildungsniveau, Arbeitserfahrung oder Führungspositionen. Das Lohnniveau in Berufen mit einem hohen Frauenanteil liegt denn auch deutlich tiefer als das Lohnniveau in Berufen mit einem hohen Männeranteil.
Teilzeiterwerb durch Familiengründung
Der Entscheid zur Erwerbstätigkeit bei der Familiengründung ist immer noch wesentlich vom Lohn und somit vom Geschlecht abhängig. Während Frauen ihr Erwerbspensum mehrheitlich reduzieren und einen Grossteil der unbezahlten Haus- und Betreuungsarbeit übernehmen, stocken Männer ihr Erwerbspensum in der gleichen Lebensphase auf. Dadurch tragen aber Frauen auch das Armutsrisiko. Bei einer Trennung oder Scheidung laufen sie Gefahr, ihren Lebensunterhalt nicht sichern zu können. Heute können nicht einmal die Hälfte der Frauen in der Deutschschweiz ihre Existenz alleine sichern.
Familie und Beruf schwer vereinbar
Dies hat auch mit der mangelhaften Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der Schweiz zu tun. Kita-Plätze sind nicht nur sehr teuer, es gibt auch noch zu wenige. Viele Frauen verzichten deshalb – auch unfreiwillig – auf eine Erwerbsarbeit. Das wirkt sich jedoch später negativ aus, denn die Altersvorsorge ist an Erwerbsarbeit gekoppelt. Weil Frauen aber während der Erwerbsphase weniger verdienen, oft nur in Teilzeitpensen tätig sind oder nach der Geburt eines Kindes ganz aus dem Erwerbsleben ausscheiden, sind sie auch im Alter öfter arm. Fast zwei Drittel der Beziehenden von Ergänzungsleistungen sind Frauen.
Wirft Corona die Frauen zurück?
Neben den Einkommenseinbussen und Arbeitserschwernissen waren für viele Familien auch das Homeoffice und die Schulschliessungen belastend. Die ersten Studien zeigen deutlich, dass Mütter durch das Homeoffice stärker beeinträchtigt waren als Männer, weil sie gleichzeitig Kinder betreuen mussten. So erstaunt es wenig, dass vorab Mütter im ersten Lockdown im Frühling 2020 ihr Pensum im Homeoffice reduzierten.
Die Gleichstellung lässt auf sich warten; mit gravierende Konsequenzen. Eine davon: stärkere Armutsbetroffenheit.
Caritas engagiert sich für Betroffene
Die Caritas unterstützt Menschen mit wenig Geld auf vielfältige Weise – unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder Konfession. Fünf Beispiele:
Patenschaftsprojekt «mit mir»: Das Patenschaftsprojekt «mit mir» vermittelt Kindern aus armutsbetroffenen Familien freiwillig tätige Gotten und Göttis, die für sie da sind und sie auf einem Stück ihres Lebenswegs begleiten. In schwierigen Familiensituationen fehlt es Kindern oft an Aufmerksamkeit und Unterstützung durch die Eltern, die Freizeit bietet häufig wenig Anregungen. Hier setzt das Patenschaftsprojekt «mit mir» an. Eltern, oft alleinerziehend, erfahren eine konkrete Entlastung. Kinder lernen neue Welten kennen, entdecken neue Fähigkeiten und gewinnen an Selbstvertrauen.
Gesunde und günstige Lebensmittel – die Caritas-Märkte in Wil und St. Gallen: Die Caritas-Märkte bieten armutsbetroffenen Menschen gesunde und günstige Lebensmittel. Zudem werden in einigen Filialen auch Personen beschäftigt, die den Übertritt in den ersten Arbeitsmarkt schaffen wollen. Zum Einkauf in einem Caritas-Markt sind Personen berechtigt, die am oder unter dem Existenzminimum leben. Ihnen bieten die Märkte nicht nur eine günstige Einkaufsgelegenheit, sondern auch einen sozialen Treffpunkt: Man kennt sich, kann sich austauschen und der Einsamkeit für einen Moment entfliehen.
www.caritas-markt.ch
Caritas ist Anwältin für Armutsbetroffene: Die Caritas sensibilisiert auf vielfältige Weise die Bevölkerung und die Politik, damit die armutsbetroffenen Menschen nicht vergessen gehen. Dies unter anderem auch im Rahmen des Caritas-Sonntags oder der schweizweiten Aktion Eine Million Sterne. Wir sind überzeugt, dass es Betroffenen umso leichter fällt, Mut und Kraft zu bewahren, um aus schwierigen Phasen herauszukommen je informierter die Öffentlichkeit über die Fakten der Armut in der Schweiz Bescheid weiss und Armut auch ein Gesicht erhält. 2021 konnten wir mit der Abschaffung der Schwarzen Liste im Kanton St. Gallen einen grossen sozialpolitischen Erfolg verbuchen. Wir bleiben dran, damit keine Politik auf Kosten von Armutsbetroffenen gemacht wird.
Femmes-Tische: Femmes-Tische ist ein niederschwelliges Bildungsangebot für Frauen mit Migrationshintergrund. Die Gesprächsrunden finden in der jeweiligen Muttersprache und zu Themen der Erziehung, Gesundheit und Integration statt.
Sozial- und Schuldenberatung: In der Sozial- und Schuldenberatung begleitet die Caritas Menschen und Familien, die armutsbetroffen oder armutsgefährdet sind beziehungsweise Personen mit Schulden. Gerade in aussichtslos erscheinenden Situationen kann es entlastend sein, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Genau das bietet Caritas Familien und Menschen mit viel Erfahrung und auf professionelle Weise. Die Beratungsangebote sind freiwillig und kostenlos.
Zugang zu Bildung mit der KulturLegi: Mit der KulturLegi ermöglicht die Caritas Personen mit wenig Geld Zugang zu stark vergünstigten Bildungs-, Kultur- und Sportangeboten. Die Rabatte betragen 30–70% auf Angebote wie Musikunterricht, Jahresabo einer Tageszeitung oder die Jahreskarte einer Bibliothek. Untersuchungen und unsere Erfahrung zeigen, dass soziale Isolation als Begleiterscheinung von Armut ist, die bisweilen schwerwiegende gesundheitliche Auswirkungen haben kann. Die Möglichkeit, auch mit wenig Geld am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können, kann Wunder bewirken.
https://www.kulturlegi.ch
Weitere Informationen zum Thema «Armut ist weiblich»:
Magazin «Nachbarn» der Deutschschweizer Caritas-Organisationen zum Thema «Armut ist weiblich»:
https://www.caritas-stgallen.ch/aktuelles/nachbarn
Materialien zum vergangenen Armutsforum vom 27. Oktober 2021 in Zürich zum Thema «Frauen in der Corona-Krise: zwischen Systemrelevanz und Prekarität»:
https://www.caritas-zuerich.ch/was-wir-sagen/armutsforum/armutsforum-27-oktober-2021-frauen-in-der-corona-krise-zwischen-systemrelevanz-und-prekaritaet
Veranstaltungshinweis:
Caritas Forum zum Thema «Wenn Armut weiblich ist» am 28. Januar 2022 in Bern (Anmeldeschluss: 21. Januar 2022):
https://www.caritas.ch/de/was-wir-sagen/veranstaltungen/caritas-forum.html