Hintergrundinformationen zu prekärer Arbeit in der Schweiz
Gerne nimmt man an, die Schweiz verdanke einen Teil ihres wirtschaftlichen Erfolgs einer vergleichsweise liberalen Arbeitsgesetzgebung. Diese bietet aber nur einen schwachen Kündigungsschutz und beinhaltet keine obligatorische Krankentaggeldversicherung. Ausserdem sind ganze Sektoren wie die Landwirtschaft oder Hauswirtschaft nicht dem Arbeitsgesetz unterstellt. Aber auch in anderen Sektoren finden sich viele prekäre Arbeitsverhältnisse. Unsere Berater*innen müssen Arbeitende aus dem Gastrobereich, der Lebensmittelindustrie, dem Detailhandel, und aus der industriellen Fliessbandarbeit unterstützen. Prekäre Verhältnisse sind darüber hinaus auch in Arbeitsformen verbreitet, die über Online-Plattformen organisiert werden (z.B. Reinigungs- oder Kurierarbeit). Diese wirtschaften arbeitsrechtlich in einem Graubereich. Prekäre Arbeitsverhältnisse werden somit gerade durch fehlende Regulierung begünstigt.
Arm trotz Erwerbsarbeit
Prekäre Arbeit bedeutet für die Betroffenen einen hohen Grad an Unsicherheit: Befristete Anstellungen, keine fixierte Wochenarbeitszeit, Arbeit auf (kurzfristigen) Abruf. Diese Unsicherheiten schlagen sich in einem unsicheren Lohn nieder. Dies führt wiederum dazu, dass man sich Zwängen unterwirft. Auch wird eine mangelhafte Absicherung gewisser Risiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Altersarmut in Kauf genommen, weil die Anstellung an sich schon alternativlos ist. Die Zahlen des Bundes weisen aus, dass sich prekäre Arbeit mehrheitlich in den klassischen Tieflohnbranchen findet beispielsweise im Gastgewerbe, der Reinigung, aber auch in der Dienstleistungsbranche und im Kunstbetrieb. Auffallend ist, dass nicht alle Erwerbstätigen ein gleich grosses Risiko für prekäre Arbeit tragen: Betroffen sind
besonders häufig Frauen, jüngere Arbeitnehmende, Personen mit tiefem Bildungsstand und Menschen ohne Schweizer Pass, vor allem solche mit unsicherem Aufenthaltsstatus. Es braucht wenig Vorstellungskraft, um sich die Wirkungen solcher prekären Arbeitsverhältnisse auf die übrigen Lebensbereiche auszumalen, zerlöchertes Privatleben, kaum Raum für Freundschaftspflege, private Abhängigkeiten.
Das ganze Ausmass ist nicht bekannt
Gesicherte Daten aus Forschung zum Thema gibt es in der Schweiz wenig. Gemäss Zahlen des Bundes sind rund 2.5 Prozent der Erwerbstätigen in prekären Arbeitsverhältnissen tätig. Diese Quote basiert allerdings auf einer sehr eng gefassten Definition von prekärer Arbeit, die einige der Betroffenengruppen wie Sans-Papiers oder Personen in kritischen Arbeitsformen (z.B. gut bezahlte, aber auf kurze Zeit befristete Arbeit) gerade ausschliesst. Die Dunkelziffer dürfte also hoch sein. Eine Erweiterung der Definition wäre wichtig, um das wahre Ausmass unsicherer Arbeit in der Schweiz zu erfassen und die Betroffenen besser zu schützen – und Armut vorzubeugen.
Keine Absicherung in der Krise
Die Corona-Krise führt uns einerseits vor Augen, wie stark wir als Gesellschaft von prekärer Arbeit abhängig sind. Andererseits wird auch ersichtlich, wer besonders schlecht vor Risiken geschützt ist. Deutlich wird auch, wie das Schweizer System der arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Sicherung an seine Grenzen stösst. Ein Grund dafür liegt u.a. darin, dass es sich nach wie vor stark an einer unbefristeten Vollzeitstelle orientiert. Gerade für prekär Arbeitende steigt durch die Corona-Krise das Risiko zur Verschuldung und Altersarmut.